Mittwoch, 16. November 2022

Grafental – zwischen Grafenberg und Düsseltal

oder zwischen Rübezahl und Mercedes Benz

1.   Flingern war geteilt

Früher gab es eine Grenze: Die "Höheren Töchter" und andere "Höhere Leute" wohnten nördlich der Grafenberger Allee in Straßen, die es mit Höherem zu tun hatten (Schiller, Goethe, Brahms und Schumann).

Die Arbeiter wohnten südlich der Allee in Straßen, die die Natur priesen (Linden, Birken und Platanen).

Noch früher war es genau umgekehrt: Im nördlichen "Flinger Busch" hausten Räuber, die nicht mal der Galgen am "Flinger Geisten" abschreckte. Im südlichen Flingern wohnte der Adel, der mit seinen Höfen den Ort Flingern gründete.

2.   Wohnungsplanung in Flingern Nordost

Grafental ist ein schwieriges Gebilde. Es liegt in der Nähe von Grafenberg und Düsseltal und bildet zusammen mit "Metro Campus" das Areal für die größte Wohnungsplanung in Düsseldorf.

3.   „Lost in Grafental“

so titelte neulich eine Zeitung, um auf die verlorenen Areale (lost places) hinzuweisen (Anmerkungen s.u.). Versuchen wir es mal. Wie kommen wir rein, wie wieder heraus?

Nehmen wir die Grafenberger Allee. Sie wurde im 18. Jht. als eine der wenigen chaussierten Straßen kerzengerade bis zum Ende von Flingern gezogen (á la "Chaussee de Berlin"). Der Hof "Am End" wurde zur Engerstraße. Danach kam die "Zoppenbrück", die Straßenbrücke über Düssel-und Kittelbach, die sich hier trennen.

Hinter dem Knick und der berühmten Haniel Garage von Paul Schneider Esleben (1954) ist links mit der Firma Schloemann auch der Straßenname nach Norden verrutscht. Von nun an heißt es: Ivo-Beucker-Straße.

Rechts verschwindet die frühere Sohlstraße, einst benannt nach Hans-Günther Sohl, dem berüchtigten Thyssen Boss, jetzt nach Luise Rainer, einer Düsseldorfer Schauspielerin der 30iger mit Oscarehren (Anmerkungen s. u.)

Man fährt durch eine Schlucht von Glas und Stahl und übersieht fast die Schlüterstraße, einstmals die große Kreuzung von Straße und Schiene (Linie 12).

Die Kreuzung ist immer noch da, wird aber nicht mehr als solche wahrgenommen. Die nächste riesige Einfahrt ist nach Walter Eucken benannt, ein Ökonom, wie Röpke von der Röpkestr.

Recht Seite: der Metro Campus steht noch unberührt, mehrere Kreisverkehre, dann Sackgasse, Ende der Fahnenstange und zurück in die Hohenzollernstraße. Wir sind "lost in Grafental" und fahren geradeaus bis zum alten Bahnhof. Er ist nicht mehr da, dafür die berühmte Einfahrt Neumannstraße; links ein roter Backsteinbau, letzter Rest der Industrie. Bis vor kurzem sah man hier noch die Schienen der Eisenbahn.

Zweiter Versuch: hinein und heraus, diesmal von Süden: Brücke an der Cranachstraße; die Brücke ist das einzige Denkmal der Ruhrtal-Eisenbahn. Sie führte über die Gleise, heute über nichts: kein Tal, kein Fluss, keine Bahn, keine Straße.

Eigentlich müssten die Leute neugierig sein, was ist das für eine Brücke? Sind sie aber nicht.
Links kommt man nicht mehr in die Schlüterstr hinein, geht nur über den Edison-Platz; hinaus: wieder zurück über Edison-Platz.

Fazit: Ganz schön verworren, eben "lost in Grafental".

4.   Das Terrain ist vernässt

Das Terrain von Grafental und Metro Campus war immer schon "lost". Der ganze Osten Düsseldorfs war kaum besiedelt. Die Namen sagen es: Kuhbruch, Torfbruch, Mörsenbroich, Vennhausen: Sumpfland, vernässter unbrauchbarer Boden. "Bruchstraße" sagte man zur einzigen Straße oder "Flinger Broich".

Am Bergfuß zum Grafenberger Wald staute sich das Regenwasser, denn der Rhein als Empfänger für den Abfluss war zu weit entfernt. Das Grundwasser, das die Kastenform der Terrassen nicht mitmachte, trat zusätzlich hier zu Tage.

Der gefährliche Sumpfwald (Bilker-/Flinger Busch) konnte nur durch gerade "Kikwege" betreten werden (der erste sah den letzten einer Gruppe). Der "Flinger Richtweg"oder der "Kikweg" sind Reste davon. Die Unterbacher Sandträger gingen kerzengerade über die Königsberger Straße durch den Wald bis Icklack. Ihr Scheuersand war gefragt.

Ein winziger Weg zwischen den vielen "Entwässerungsgräben" und "Richtwegen" im Sumpfwald hieß "Hellweg" (= höherer trockener Weg). Der Name wird heute eher gemieden.

Auch die Gruselgeschichten tragen zum Unguten bei: Der Mörder Peter Kürten kam von der Hohenzollernfabrik, ging die leeren Wege an der Bahn entlang bis zur Bertastraße, wo er seine Opfer fand.

5. Schöne Namen in unschönem Gebiet

Für den Komplex Metro Campus wird noch ein Name gesucht. Das südliche Areal hat den wohlklingenden Namen Grafental, entstanden aus den Namen Düsselthal und Grafenberg.

Düsselthal war ein Trappistenkloster auf den "Specker Höfen", die "Specker" (große Baumstämme) halfen, im Sumpfland zurecht zu kommen. Das schweigende Kloster war die Touristenattraktion im 18. Jht. Von Pempelfort aus führten 2 Wege dahin: der Mönchweg und der Düsselthaler Weg. Aus dem Kloster wird 1822 die "Rettungsanstalt Düsselthal".

Grafenberg (oder "Godesberg") hieß der bewaldete Hügel hinter dem Staufenplatz, der Edle Haic von Flingern war als "Waldgraf" zuständig. Der Graf vom Grafenberg ist also kein richtiger Graf, sondern ein Forstbeamter.

6. Die Eisenbahn als Initiator

1838: die erste Bahn von Düsseldorf nach Elberfeld. Die „Bergisch-Märkische“ durchfährt den gefährlichen Wald, schafft mit dem Bahnhof das neue Gerresheim (heute: "Glasmacherviertel") und bringt nebenbei die Kiefernstraße hervor. Sie entsteht auf dem "Aufgelassenen Gleiskörper".

1845: die zweite Bahn, die „Cölln –Mindener“ schafft das Oberbilker Gleisdreieck, den neuen Hauptbahnhof, heute die Dreibrückenstadt in Derendorf.

1866: die dritte Bahn, die „Ruhrtalbahn“ schafft den Komplex Grafental / Metro Campus.

Die Bergisch-Märkische war ins Ruhrgebiet über Elberfeld gefahren. Jetzt 1866 nimmt man den kürzeren Weg über Mülheim.

7. Die Ruhrtalbahn

Die neue Bahn zweigte 1866 von der alten 1838 Strecke an der "Ruhrtalstraße" ab. Sie ging anfangs als Weg bis zum Oberbilker Markt und weiter in die Bogenstraße. An dem alten Feldweg (Ruhrtalstraße) liegen die Piedboeuf- und Dawan- Werke aus den 1850iger Jahren, aber auch die großen Drahtwerke Peter Klöckner aus Koblenz, die zur Kiefernstraße werden.

An die Ruhrtalbahn von 1866 und den Höher Weg kommen die Gaswerke aus der Luisenstraße, später die Stadtwerke. Die Ruhrtalstraße, weiter nach Norden gedacht, immer an der Eisenbahn entlang, wird zur Schlüterstraße und damit zum Zentrum von Grafental / Metro Campus.

Zwischendurch entsteht an der Ruhrtalstrecke der Komplex Flinger Broich mit der rätselhaften Behrensstraße (man kann den Namen nicht erklären). Die Ruhrtalbahn führt nördlich weiter nach Rath. An ihr entsteht Rheinmetall Rath. Die erste Düsseldorfer Elektrische benutzt ab 1898 später die Gleisstrecke, zunächst neben der Eisenbahn. Die Ruhrtalbahn steht somit auch für den Ursprung unserer "Elektrischen".

8. Industrien entstehen an der Bahn

Am Bahnhof Grafenberg der Ruhrtalbahn entstehen dann die großen Industriekomplexe von Nord nach Süd: die Farbwerke Schmincke, Jorissen Transportmittel, Gussstahlfabrik Grafenberg, Metallgesellschaft Dick, Armaturen Losenhausen, vor allem aber die Lokomotivfabrik Hohenzollern (Haniel).

Franz Haniel, Nachfahre des berühmten Haniel, der die ersten Tiefschächte bis zur wichtigen Fettkohle im Emschertal stieß, gründete 1872 mit zwei anderen die Lokomotivfabrik Hohenzollern. Bis zur Schließung 1929 wurden hier 1600 Loks gebaut. Rheinmetall übernahm die Gebäude und errichtete hier von 1942 bis 1945 das Außen-Lager "Berta" vom KZ Buchenwald / Weimar.

Haniel saß gleichzeitig mit Heinrich Lueg an der Grafenberger Allee (Maschinenfabrik Haniel-Lueg, Haniel Park, Haniel Garage). Sie übernehmen 1929 die Gute-Hoffnungs-Hütte: die älteste Hütte im Ruhrgebiet. Lueg wird später die Rheinbahn gründen und aus der Wiese heraus Oberkassel entstehen lassen.

9. Die Industrie schmückt sich mit großen Namen

Die Großunternehmer hatten sich mit Namen der Baukunst geschmückt. Aus "Grenzstraße" wurde Schlüterstraße, die Neumannstraße kommt noch dazu: zwei Riesen der Baukultur. Schlüterstr war die große Verkehrsachse und Neumannstr war der Haupteingang zu den Hohenzollern Werken. Die Schienenspuren waren bis in die jüngste Zeit hinein zu sehen. Im BAHNHOF gab es in den 1980 / 1990igern lange einen Geheimtipp der Gastro-Szene. Zwei Parallelstraßen zur Hohenzollernstr waren die Dinnendahlstraße: eine Hommage an den Gründer der Dampfmaschinenindustrie und Daelenstraße, ein anderer Held aus den Anfängen.

Als die Ruhrtalbahn geschlossen wird, verkümmern die Industrien am Bahnhof Grafenberg allmählich. Es entsteht die große Brache Flingern Nord Ost, ein Geisterland.

10. Die Planungen

Wohnsiedlungen sehen heute fast überall gleich aus: große weiße Bauklötze mit Balkonen, die schwarz geländert sind.

Das nördliche Areal Flingern Nord-Ost gehört bis Metrostraße der Metro und liegt auf dem Terrain der alten Industrien: Schmincke, Losenhausen, usw. Die Metro AG ist ein börsennotierter Konzern des Großhandels, 1963 in Essen von den Brüdern Schmidt gegründet (ähnlich Aldi). 1964 öffnet in Mülheim der erste Selbstbedienungsladen (die „cash and carry“ Idee kam in den 60igern aus USA). Otto Beisheim war ein anderer wichtiger Gründername.

Am 2. Okt 1967 kam die Metro an die Schlüterstraße. Die Metro wuchs rasant, beherbergte Namen wie Real, Saturn, Media Markt, Kaufhof, expandierte weltweit, darunter nach Russland und China und betrieb Sport Sponsoring (Marathon, Eishockey). Seit einiger Zeit wird die Übersiedlung nach Unterrath geplant (ins Großmarkt Gelände).

Ab 2026 soll das Gelände Schlüterstr umgebaut werden. Nur die Hauptverwaltung bleibt, das Büro London ACME gestaltet den "Campus". Metro hat mit dem Namen hoch gegriffen. Campus ist normalerweise das Gelände einer Universität.

Green Lane, Park Quartier, Garten Quartier, es soll alles grüner werden als in anderen Wohnquartieren. Mit der Mischung aus Wohnen, Arbeiten, sich Versorgen, sich Erholen ist eine kleine City geplant.

11. Happy End in Flingern

Wir heirateten in Flingern Ost, Höher Weg, weit hinter der Ronsdorfer Straße. Meine australische Frau liebte diese kleine grüne Insel im Betonmeer der Stadt. Sie schreckte nicht die Gaswerke, E-Werke, Verbrennungswerke, nicht die vielen hässlichen Unterführungen der Eisenbahn noch die nahen Wege des Vampirs von Düsseldorf. Die „Ronsdorfer“ ist heute (2022) noch immer das reinste Chaos, ein Abenteuer.

Das Entsetzen meiner Familie machte sie traurig. Ich verstand sie erst später. Für sie war diese gottverlassene Ecke ein "Little Australia", ein bisschen Freiheit, eine kleine Heimat.


Anmerkungen:

1. zur Umbenennung von Hans-Günther-Sohl-Straße in Luise-Rainer-Straße
Sohl war zur Nazizeit Wehrwirtschaftsführer, Vorstandsmitglied der Vereinigten Stahlwerke und NSDAP-Mitglied. Nach Entlassung aus der Internierung als Kriegsverbrecher wurde er 1953 Vorstandsvorsitzender der Thyssen AG und von 1972 bis 1976 Vorsitzender des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI).

Wegen seiner Verstrickung in das NS-Regime wurde die ursprünglich nach ihm benannte Straße in Flingern umbenannt in „Luise-Rainer-Straße“. Die Düsseldorferin Luise Rainer stammte aus einer jüdischen Familie und wurde nach ihrer Auswanderung in die USA als bislang einzige deutsche Schauspielerin in Hollywood mit einem Oscar ausgezeichnet und half verfolgten NS-Opfern.
mehr bei Wikipedia de.wikipedia.org/wiki/Hans-Günther_Sohl und de.wikipedia.org/wiki/Luise_Rainer

2. Die Villa Sohl und der dazugehörige Park verfallen seit dem Tod der Inhaber. Mittlerweile wird der Ort zu den „Lost Places“ gezählt. Zurzeit verhandeln die "Bezirksvertretung 7" und die „Untere Naturschutzbehörde“ mit einem Investor über die weitere Verwendung von Park und Villa.
s. RP-online 1.4.2020 „Park der Villa Sohl droht zu zerfallen“
rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/stadtteile/ludenberg/duesseldorf-park-der-villa-sohl-droht-zu-zerfallen


Autor: Dieter Jaeger mit Ergänzungen von Jochen Grundmann
Redaktion: Bruno Reble  © Geschichtswerkstatt Düsseldorf 2022
 

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